Lies rein

 

 

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»Das Universum hat schon einen seltsamen Sinn für Humor. Da erschießt es John Lennon und lässt den Blobfisch am Leben. Haben Sie mal über die Ironie dahinter nachgedacht?«
»Nicht wirklich.«
»Sollten Sie aber.«
»Eigentlich wollte ich nur wissen, was ich Ihnen bringen soll«, meinte die Kellnerin und verdrehte die Augen hinter ihrer Hipsterbrille.
Das war rund fünf Minuten, bevor es geschah – und er bestellte einen Kaffee. Ganz klassisch ohne irgendwelchen Schnickschnack wie Haselnussaroma, fettarme Sojamilch, Vanilleflavour oder dreifach erhitzten Milchschaum. Keinen Cappuccino, Moccachino, Chococino, Latte, Americano oder Espresso ristretto macchiato con latte freddo e poca schiuma (calda). Einfach Kaffee mit Milch und Zucker.
Vielleicht schaute sie deswegen so pikiert drein. Möglicherweise hielt sie ihn auch für verrückt. Dabei gab es überall auf der Welt Typen wie ihn. Diesen Kerl im toten Winkel, der gewissermaßen zum Mobiliar gehörte. Der selten blinzelte und wenig redete, von dem man aber instinktiv wusste, dass er die spannendsten Geschichten auf Lager hat.
Was die Kellnerin offenbar nicht die Bohne interessierte.
»Ihr Kaffee«, sagte sie knapp, als sie kurze Zeit später an seinen Tisch zurückkehrte und mit obszön missmutigem Gesichtsausdruck die Tasse abstellte. Definitiv ein politisches Statement zum Niedergang der hiesigen Kaffeekultur.
»Nichts dazu?«, murmelte er und schielte auf den leeren Unterteller.
Anstatt ihm eine patzige Antwort zu servieren, brach sie in ohrenbetäubendes Kreischen aus. Unpolitisch und statementfrei. Der schrille Ton galt einzig und allein dem roten VW Golf, der plötzlich mit vollem Karacho durch die Panoramascheibe krachte.
Beide starrten sie erst den Wagen und dann einander an.
»Amarettini hätten es auch getan …«
Die Szene war grotesk. Einmal das Geschehen an sich und mehr noch die lächerlich geringe Zeitspanne, in der alles ablief.
Von einem Moment zum anderen barst das Glas der großen Scheibe. Glassplitter, Holzspäne und Staub regneten waagerecht in den Raum. Die Kellnerin ließ ihr Tablett fallen, stolperte drei Schritte Richtung Garderobe und erstarrte zur Salzsäule. Weiter vorn im Café keuchte ein Weißhaariger mit portablem Sauerstoffgerät etwas von wegen »Die Russen kommen!«, ehe er unter einem der unbesetzten Tische Deckung suchte.
Währenddessen pflügte die Schnauze des Golfs durch die Einrichtung, die wellenartig zu beiden Seiten wegschwappte. Kaum einen Meter von der stocksteifen Kellnerin entfernt. Hätte der Anzugträger links neben ihr nicht beherzt zugepackt und sie mit sich gezogen, sie wäre von einem der Ausläufer niedergemäht worden. Ihr neuerliches Kreischen verklang in einer Kakophonie aus Hupen, Stimmengewirr und Schreien.
Die restlichen Gäste des Cafés stoben sternförmig auseinander. In panischer Flucht und kopflosem Schrecken. Alle bis auf einen. Der schweigsame Kerl mit den vermutlich spannendsten Geschichten, der selten blinzelte und wenig redete, saß seelenruhig da und trank seinen Kaffee.
Als ginge ihn das Ganze nichts an, folgten seine Augen dem Wagen, der nach kurzer Fahrt unsanft vom Tresen ausgebremst wurde. Dabei ließ ihn das Zittern des Bodens ebenso kalt wie der Lärm um ihn herum. Mit der gleichen stoischen Attitüde, mit der er seinen Kaffee leerte, wartete er, bis sich der Staub gelegt und der Fahrer hinter dem Airbag hervorgeschält hatte. Dann stellte er die Tasse ab, spazierte hinüber zu dem verbeulten Vehikel und erkundigte sich nach dem Befinden des Mannes.
Eine flüchtige Bestandsaufnahme später rief er den Notarzt. Woraufhin das übliche Prozedere ablief.
Die Gäste und das Personal des Cafés beruhigten sich allmählich. Es wurde reihum nachgefragt, ob jemand Hilfe bräuchte. Einige zupften sich Splitter aus dem Haar, andere krochen aus ihren provisorischen Schützengräben. Und bis die Rettungskräfte eintrafen, kümmerte man sich gemeinschaftlich um den scheinbar nicht allzu schwer verletzten Fahrer.
Zum Glück befand sich ein Arzt unter den Gästen. Ein pensionierter Augenarzt, wie sich im Nachhinein herausstellte, aber immerhin.
Irgendwann tauchte dann natürlich auch die Presse auf. Journalisten mit Mikrofonen, Kameraleute und eine Traube Schaulustiger versammelten sich vor dem nicht mehr vorhandenen Panoramafenster.
»Ich hasse meinen Job«, raunte die Kellnerin. »Macht zwei Euro achtzig, Trinkgeld nicht inbegriffen.«
Nachdem sie das losgeworden war, lief sie konfus zwischen den Trümmern umher. Alle waren sie neben der Spur. Die Menschen verhielten sich fiebrig. Was verständlich war, Ereignisse dieser Art geschahen nicht jeden Tag. Das wollte besprochen, kommentiert, diskutiert oder sonst wie verarbeitet werden.
Der Einzige, der sich nach getaner Pflicht entspannt zurück auf seinen Platz begab, war der schweigsame Kerl mit dem Kaffeetick.
»Sag mal, schluckst du Valium?!«, fragte ihn der russophobe Alte und nahm einen kräftigen Zug aus seinem Sauerstofftank. »Da ist eben ein Auto durch die Scheibe gekracht …«
»Ja, was ist los mit Ihnen?«, zischte die Kellnerin.
»Er hat sicher einen Schock«, meinte der Anzugträger.
»Haben sie einen Schock?«, erkundigte sich einer der Sanitäter, der zufällig in der Nähe stand. Routiniert bewegte er seinen Zeigefinger von links nach rechts und leuchtete ihm mit einer kleinen Lampe ins Gesicht.
»Nein.« Der Mann mit der Tasse verschränkte die Arme und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Was stimmt dann nicht mit dir?«, keuchte der Alte.
»Ja, normal ist das nicht«, pflichtete die Kellnerin ihm bei.
»Ach wisst ihr«, erwiderte er und es schien, als müsse er erst einen Moment über die Frage nachdenken. In seiner Stimme lag eine buddhistische Gelassenheit. »Ich habe schon ganz andere Sachen erlebt.«
»Andere Sachen?«, fragte der Anzugträger skeptisch.
»Oh ja …« Der Blick des Mannes glitt in die Ferne. »Ich könnte euch Geschichten erzählen ...«
»Wir haben Zeit«, meinte der Alte mit dem Sauerstoffgerät. »Oder?«
Die Kellnerin blickte sich um und zuckte mit den Schultern. Der Sanitäter runzelte die Stirn und tat es ihr gleich. Ebenso der Anzugträger.
»Also schön …«, sagte er.
Erwartungsvoll beugten sich die vier zu ihm herunter. Selbst der Fahrer des Golfs, der gerade auf einer Notfallbahre abtransportiert wurde, drehte in der Halskrause andeutungsweise den Kopf. Es hatte dann doch etwas länger gedauert, ihn aus seinem roten Flitzer zu schneiden.
»Da war zum Beispiel dieser verrückte Vorfall mit dem Mord.« Sein Blick kehrte zurück ins Café und er lächelte auf undefinierbare Weise. »Witzig, daran habe ich schon eine ganze Weile nicht mehr gedacht.«
»Mord?!« Die Umstehenden rissen verblüfft die Augen auf.
»Du willst uns verarschen!?«, raunte der Alte.
»Vielleicht hat er doch einen Schock«, murmelte der Anzugträger.
Der Sanitäter nickte und gab seinen Kollegen Handzeichen, ohne ihn zu fahren. Entweder stimmte er der Diagnose zu oder war inzwischen ernsthaft neugierig geworden.
»Er verarscht uns«, entschied die Kellnerin.
»Keineswegs. Diese Geschichte ist passiert und sie handelt von einem Mord.« Er warf einen zögernden Blick in die Runde und versicherte sich der Aufmerksamkeit seiner vier Zuhörer. »Von einem Mord und von Henning. Eigentlich vor allem von Henning …«
Und dann begann der Kerl, der selten blinzelte und wenig redete, seine Geschichte zu erzählen. Dort im Café, neben den Trümmern der Panoramascheibe und einem verbeulten VW Golf.

 

1

 

Bevor wir über den Mord sprechen, solltet ihr zunächst ein paar grundlegende Dinge über Henning wissen. Der Name stammt übrigens aus dem Althochdeutschen und bedeutet »Herrscher seines Heims«. Die Ironie dahinter wird euch schnell klar werden, sobald ihr Henning kennengelernt habt. Dagegen ist der Blobfisch eine Lachnummer. Treffender wäre »Der Typ mit dem außergewöhnlichen Talent, in merkwürdige Situationen zu geraten«. Allerdings sagt das wenig über die Person Henning aus, daher fange ich nochmal von vorne an.
Bei einem flüchtigen Blick in die Welt scheinen manche Menschen vom Schicksal begünstigt zu sein. Sie sehen gut aus, haben tolle Jobs, ein erfülltes Privatleben und aufregende Hobbys. Alles, was sie anpacken, gelingt ihnen auf Anhieb und dazu müssen sie sich nicht einmal sonderlich anstrengen.
Henning gehörte nicht zu dieser Kategorie. Mit seinen Ende vierzig sah er eher unscheinbar aus. Raspelkurze Haare, ovaler Schädel, knochiger Körperbau. Im Profil und wenn man die Augen zusammenkniff ein bisschen wie der schlaksige deutsche Cousin siebten Grades von Bruce Willis. Sein Job als Sachbearbeiter verlief in eingefahrener Routine und seine Ehe glich Nowosibirsk im Winter – einer der kältesten Orte seit offiziellem Beginn der Wetteraufzeichnungen. Hobbys hatte er keine nennenswerten, geschweige denn einen speziellen Draht zum Schicksal.
Was nicht heißen soll, Henning wäre ein unangenehmer Zeitgenosse gewesen. Im Gegenteil, seine Freunde hätten ihn sicher als netten, umgänglichen und zu gewissen Gelegenheiten witzigen Menschen beschrieben. Wobei er objektiv betrachtet nur einen einzigen richtigen Freund besaß, weshalb man die Aussage ein wenig relativieren muss.
Worauf ich hinaus will: Henning hatte seinen Platz im Universum gefunden. Er war nach eigenem Ermessen zufrieden und lebte in unkomplizierter Mittelmäßigkeit dahin. Er rettete keine ölverschmierten Albatrosse im Atlantik, dafür in Limonade ertrinkende Käfer. Er machte keine bahnbrechenden Entdeckungen, verrenkte sich aber gern das Gehirn bei Kreuzworträtseln. Er schätzte seine Gewohnheiten und pflegte bescheidene Träume. Kurzum Henning war einer von vielen.
Ein Umstand, der ihn nie gestört hat. Jedenfalls nicht derart, dass er aktiv versucht hätte, etwas daran zu ändern.
In letzter Zeit lief es jedoch gar nicht rund für ihn. Sein Leben begann unaufhaltsam aus den Fugen zu geraten, das konnte er spüren. Ein schleichender Prozess, der langsam an Fahrt gewann und inzwischen deutliche Signale aussendete. Oder ließ sich die Tatsache, dass er im Büro seines Vorgesetzten saß und auf die Kündigung wartete, in irgendeiner Weise positiv deuten?
Zu allem Überfluss zählte Falk Hardenberg zu ebenjenen Menschen, die vom Schicksal begünstigt schienen. Er war Mitte zwanzig, attraktiv, erfolgreich und ein passionierter Bergsteiger. Was die Sache für Henning weder leichter noch angenehmer machte. Zudem er den Mann von Anfang an nicht hatte leiden können. Sein Rasierwasser roch nach Zuhälter, das Dauerlächeln ließ eine pathologische Störung vermuten und ständig kam er mit abgedroschenen Motivationssprüchen um die Ecke.
»Sie wissen, warum ich Sie herbestellt habe?«
»Um ehrlich zu sein: Nein«, log Henning geradeheraus.
»Ich fürchte, ich muss Ihnen kündigen«, sagte Hardenberg mit Übelkeit erregender Gleichgültigkeit in der Stimme. »Fristlos.«
»Kündigen? Aber warum?«
»Das wissen Sie doch ganz genau.«
»Nicht wirklich«, log Henning eine Spur dreister. Seine Haut kribbelte und Hitze stieg ihm aus sämtlichen Poren. Unter den Achseln verwandelte sie sich bereits in einen klebrigen Schweißfilm.
»Das gestohlene Büromaterial …?«, half Hardenberg ihm auf die Sprünge.
»Ach das.«
»Ja das.«
»Die Sachen sind nur geliehen.«
»Da haben Sie sich in letzter Zeit aber eine Menge Büromaterial geliehen.« Das Ende des Satzes untermalte er mit in die Luft gezeichneten Gänsefüßchen und einem sarkastischen Unterton.
»Einen Kugelschreiber … eventuell einen Notizblock.«
»Hm, verstehe.« Hardenberg nickte bedächtig, kramte ein Blatt Papier aus der obersten Schreibtischschublade und hielt es sich vor die Augen wie ein Musiker sein Notenblatt. »Wasser?«
Henning betrachtete das Glas vor sich und schüttelte den Kopf. Sein Mund glich der Wüste Gobi, trotzdem wäre er im Zweifelsfall lieber verdurstet. Hardenberg zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck aus seinem eigenen. Offenbar wurde es ein längerer Vortrag.
»Kugelschreiber und Notizblöcke«, begann er vorzulesen.
»Wie gesagt, alles geliehen.«
»Mehrere Schachteln Büroklammern, ein Jumboglas Heftzwecken, Tesafilm und Radiergummis.«
»Geliehen.«
»Briefumschläge, Briefmarken, Locher, Tacker, Textmarker in verschiedenen Farben. Zwölf Kaffeetassen, drei Pakete Arabica Röstung nebst Zucker, Süßstoff und Kondensmilch. Diverse Rollen Toilettenpapier«
»Ich hatte einen kleinen Engpass zuhause.«
»Ein Drucker, eine Wanduhr, ein schnurloses Telefon, eine Zimmerpalme und … die Bürogießkanne?« Hardenberg seufzte gedehnt und blickte ihn an. »Können Sie mir das bitte erklären?«
»Nun ja, die Gießkanne und die Palme gehören irgendwie zusammen, finden Sie nicht?«
»Hören Sie«, fuhr Hardenberg fort und ignorierte seinen Versuch, die Situation durch einen schalen Witz zu entspannen. »Ich entlasse äußerst ungern langjährige Mitarbeiter, weshalb ich bei geringfügigen Verfehlungen durchaus bereit bin, auch mal ein Auge zuzudrücken. Aber das geht eindeutig zu weit.«
In dem Punkt musste er seinem Vorgesetzten leider beipflichten. Er hatte es die vergangenen Wochen reichlich übertrieben. Dabei brauchte er nicht einen der Gegenstände, die bei ihm daheim lagerten. Bis auf die letzte Rolle Klopapier vielleicht. Es war ein erhebendes Gefühl gewesen, sie diesem privilegierten Schnösel wegzunehmen.
»In Ordnung. Möchten Sie zu der Sache Stellung beziehen?«, fragte Hardenberg und verstaute seinen Zettel wieder in der Schublade.
»Das Leben ist nicht fair, die Ehe ein kosmischer Witz, mein Gehalt eine Frechheit, der modernde Mann ein urbaner Mythos, das Firmenklopapier verdammt rau und fettreduzierter Käse sollte gesetzlich verboten werden.«
Natürlich sagte er das nicht laut. Obwohl sich der Gedanke in seinem Kopf erstaunlich laut anfühlte. Wohingegen der Rest seines Verstandes in eine Art Schockstarre verfiel – was die Suche nach einer glaubhaften Rechtfertigung merklich ausbremste.
»Ansonsten würde ich Sie bitten, bis Ende der Woche Ihren Schreibtisch zu räumen. Das Kündigungsschreiben erhalten Sie per Post.«
»Kleptomanie!«, entfuhr es Henning.
»Was?«
»Kleptomanie.« Einen Moment dachte er darüber nach, ob er das richtige Wort ausgegraben hatte. Dann nickte er. »Ich kann einfach nicht anders. Wenn mich etwas belastet, verspüre ich den zwanghaften Drang, zu stehlen.«
Hardenberg runzelte die Stirn.
Damit hatte er ihn eiskalt erwischt. Der Schachzug war aber auch zu genial, jemanden mit einer medizinisch anerkannten Krankheit feuerte man heutzutage nicht so leicht.
»Kleptomanie also?«
»Leider …«
Es entstand eine Pause und fast wähnte sich Henning in Sicherheit. Dummerweise hatte er die Rechnung ohne seinen Vorgesetzten gemacht.
»Legen Sie mir bis spätestens Freitag ein ärztliches Attest vor. Bis dahin werden Sie ein paar Tage unbezahlten Urlaub nehmen.« Über den Schreibtisch hinweg wies Hardenberg zur Tür. Eine knappe Geste, die unmissverständlich das Ende des Gesprächs kennzeichnete.
»In Ordnung. Danke für Ihr Verständnis?« Henning schluckte. Das wurde eng. Heute war Dienstag und die Geschichte mit der Kleptomanie erfunden. Schätzte er zumindest.
Zögerlich stand er auf, ging ein paar Schritte und verharrte die Klinke in der Hand. Ironischerweise hoffte er auf einen von Hardenbergs Motivationssprüchen. Doch der tat ihm nicht einmal den Gefallen, aufzuschauen.
»Wiedersehen«, sagte er schließlich und verließ endgültig das Büro.

Da hatte er sich schön in die Scheiße manövriert …