Lies rein
Kapitel 1
Stuard
Stuard fühlte sich an diesem Tag nicht recht wohl in seiner Haut – und das lag nicht etwa daran, dass er seit den späten Achtzigern tot war.
Ans Totsein gewöhnte man sich mit der Zeit. Wie man sich mit der Zeit an fast alles gewöhnte. Seien es die Leute, die achtlos durch einen hindurchliefen, die Langeweile oder der psychische Verfall, den so ein Geisterleben mit sich brachte. Nach ein paar Jahren stumpfte man ab, wurde egozentrisch, gleichgültig, neurotisch oder irgendwas dazwischen.
Nein, mit seinem Tod hatte er sich längst arrangiert. Ihm bereitete vielmehr die Konferenz Bauchschmerzen. Nie zuvor war derart dringlich eine offizielle Versammlung einberufen worden. Schon gar keine, an der Vertreter aller Kreaturen gleichzeitig teilnehmen sollten. Solche Aufeinandertreffen boten im Zweifelsfall einfach zu viel Konfliktpotenzial. Von Hass zu sprechen, wäre ein bisschen übertrieben, aber es herrschte eine gehörige Portion Verachtung und Missgunst zwischen den Spezies.
Dabei waren es erstaunlicherweise nicht einmal die Werwölfe, die für den meisten Ärger sorgten. Zwar erfreuten sie sich aufgrund ihrer oft mangelhaften Körperhygiene nicht gerade größter Beliebtheit, doch davon abgesehen waren sie recht umgängliche Zeitgenossen. Was man von den Banshees nicht behaupten konnte. Sie galten als zänkischer Haufen, der sich vorwiegend durch permanentes Herumgekreische und Wutausbrüche hervortat. Nicht die gefragtesten Gäste auf einer Party also. Allerdings kein Vergleich zu den Trollen, denen es schlicht am nötigen Verstand fehlte, sich zivilisiert zu benehmen. Stuard runzelte die Stirn. Eigentlich glänzte keine Kreaturenart mit ausgeprägter Sozialkompetenz, einige konnten ihre Defizite nur besser verbergen als andere.
Er schlenderte durch die Empfangshalle und blickte sich um. Überall standen sie in Gruppen beisammen, tuschelten und diskutierten angeregt über den möglichen Anlass der Konferenz. Die Vampire blieben wie üblich unter sich. Ihre Art war äußerst geruchs- und geräuschempfindlich, was insbesondere den Umgang mit Werwölfen, Banshees und Trollen erschwerte. Den Umgang mit allen übrigen Spezies erschwerte ihre blasierte Einstellung. Die Incubi und Succubi dagegen flanierten erwartungsgemäß aufreizend zwischen den Anwesenden umher. Zurückhaltung zählte nicht zu ihrem Repertoire. Kaum tauchten sie irgendwo auf, versprühten sie sofort ihren aufdringlichen Charme, der selbst dem unanständigsten Gemüt die Schamesröte ins Gesicht trieb. Die Trickster wiederum pflegten im gesellschaftlichen Umgang ein gesundes Mittelmaß. Nach vorne zeigten sie sich höflich und freundlich, hintenherum lästerten sie über alles und jeden.
Er grüßte flüchtig einen Ghul, den er von einem früheren Treffen kannte und schob sich an ein paar mies gelaunten Mumien vorbei, die damit beschäftigt waren, ihre Mullbinden in Ordnung zu bringen.
Tote, Untote, Jenseitige, Diesseitige. Sie schienen ausnahmslos alle dem Ruf gefolgt zu sein. Delegation neben Delegation, von denen jede aus durchschnittlich drei bis fünf Vertretern der jeweiligen Spezies bestand. Bis auf den Yeti, der als einziger seiner Art konsequenterweise allein gekommen war. Stuard hatte sogar Urdämonen erspäht und die mischten sich normal nie unters gemeine Fußvolk. Auf den ersten Blick fehlten lediglich die Zombies. Er hielt die Nase in die Luft und schnupperte. Aftershave, Schwefel, der Geruch des Todes und ein Hauch nasser Hund. Mit der nötigen Fantasie minimaler Verwesungsgestank mit unterschwelliger Kellernote. Eindeutig Ghularoma. Zombies rochen süßlicher.
»Mach dich locker. Du siehst verkrampft aus.«
»Und du bist spät dran«, erwiderte Stuard.
Stirnrunzelnd schielte er auf seine Armbanduhr. Was im Grunde absolut sinnfrei war. Zum einen kam Heinrich aus Prinzip und bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu spät. Zum anderen würde das Ziffernblatt seiner Swatch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts 7 Uhr 14 anzeigen. Die Stunde, zu der ihn der Linienbus 42 unsanft aus dem Leben gerissen hatte.
Für den Rest der Konferenzteilnehmer war es kurz vor zehn Uhr abends. Aus Rücksicht auf das lichtscheue Gesindel unter ihnen fanden Versammlungen immer nach Sonnenuntergang statt.
»Geh übrigens nicht aufs Männerklo«, raunte Heinrich. »Die Zombies machen sich frisch.«
»Warum sollte ich, ich habe keine Verdauung?«
»Verdauung wird überbewertet.«
»Leben wird überbewertet.«
»Alles wird überbewertet.«
»Außer Bier.«
»Ja scheiße, Bier fehlt mir auch!«
Der älteste Witz der Geistergeschichte. Beide prusteten los.
Natürlich stimmte es, dass Geister kein Klopapier brauchten, nichtsdestotrotz suchten sie manchmal die sanitären Anlagen auf. Meist, um sich eine Weile im Spiegel zu betrachten. Was zunächst ähnlich wenig Sinn ergab wie die Sache mit der Armbanduhr, denn man sah auf ewig aus wie im Moment seines Todes. Weshalb Stuard seit 1988 mit ausgeblichenen Jeans, einem T-Shirt von U2 und einer gewaltigen Platzwunde an der Stirn durch die Gegend spukte. Der Spiegel hatte psychologische Gründe. Wenn man von einem Großteil der Bevölkerung nicht wahrgenommen wurde, musste man sich ab und an von der eigenen Existenz überzeugen. Außerdem war es ein unbeschreibliches Gefühl, sich vom Handgebläse mal so richtig durchpusten zu lassen.
»Hast du gesehen? Lauter hohe Tiere diesmal.« Heinrich deutete mit dem Daumen hinter sich, ohne auf jemand Bestimmtes zu zeigen.
»Ja, oder? Nicht die üblichen Verdächtigen.«
»Da sind Gesichter bei, die habe ich seit Jahrhunderten nicht gesehen.«
»Ich weiß, was du meinst. Der Typ da drüben kannte Lilith vermutlich noch persönlich.«
Heinrich grunzte abfällig.
Verwundert runzelte Stuard die Stirn. Für sein Dafürhalten war das eindeutig einer der Alten. Den spitzen Ohren und dem knochigen Schädel nach zu urteilen möglicherweise sogar ein Erdgeborener, sprich ein Vampir, der im Grab und nicht durch einen Biss verwandelt worden war. Von denen gab es höchstens eine Handvoll auf der ganzen Welt.
In ihrer Gruppe war Heinrich der Ranghöchste. Was zugegeben keine Kunst war, schließlich bestand sie nur aus ihm und Stuard. Ein dritter Freiwilliger hatte sich nicht finden lassen. Wie eingangs erwähnt neigten Geister dazu, im Laufe der Zeit seltsam zu werden. Abgestumpft, egozentrisch, gleichgültig, neurotisch oder irgendwas dazwischen. Das galt speziell für die fortgeschrittenen Semester. Je älter, desto spezieller.
Ein Phänomen, das letztlich auf praktisch alle Kreaturen zutraf. Darum bewegten sich Mumien schlurfend vorwärts und redeten in Hieroglyphen, während bei Werwölfen zunehmend das Tier die Kontrolle übernahm. Alte Vampire litten nicht selten unter Paranoia und rund drei von fünf Trickstern wurden statistisch betrachtet schizophren. Bei Geistern schritt der psychische Verfall zugegeben schneller und intensiver voran. Vermutlich weil sie nie schliefen und faktisch nicht lebten – das konnte einen auf Dauer zermürben.
Heinrichs Bereitschaft, dieser Verpflichtung trotz seiner rund vierhundert Lenze regelmäßig nachzukommen, lag wahrscheinlich in den Umständen seines Todes begründet. Laut unbestätigten Gerüchten hatte er sich im Mai des Jahres 1616 mit William Shakespeare und einigen Freunden dermaßen volllaufen lassen, dass er kopfüber von einer Brücke stürzte und ertrank. Passierte damals häufiger. Zu viel Alkohol, zu wenig Freizeitangebote, kein Seepferdchen. Und weil sich am Zustand eines Geistes nach dessen Tod bekanntermaßen bis in alle Ewigkeit nichts mehr ändert, erfreut er sich seitdem eines ziemlich nassen sowie dauerbeschwipsten Daseins.
»Schau jetzt nicht hin.«
»Wo soll ich nicht hinschauen?«
»An die Bar.«
Selbstverständlich schaute Stuard hin. »Was ist denn da?«
»Nicht so auffällig.«
»Sorry.«
»Schon gut.«
»Und weshalb soll ich da jetzt unauffällig nicht hinschauen?«
»Die Flaschenabteilung legt gleich wieder einen ihrer Auftritte hin.« Heinrich seufzte. »Peinlich ist das.«
»Hab ich noch nie gesehen.«
»Echt nicht?«
»Nein.«
»Na dann schau gut hin.«
»Kannst du dich bitte mal entscheiden?« Stuard, der ihre Gespräche zunehmend irritierend fand, blickte zum Bartresen.
Wenn er die Szene richtig interpretierte, wurden soeben die Dschinns entkorkt. Angeblich reisten sie in ihren Gefäßen, weil sie Smog und Bazillen scheuten. Stuard vermutete dahinter eher den plumpen Versuch, Reisekosten zu sparen. Auf diese Weise passten sie nämlich bequem ins Handgepäck.
»Die bringen uns Körperlose alle in Verruf«, zischte ein blaues Irrlicht, waberte kopfschüttelnd an ihnen vorbei und ließ Heinrichs Eingeweide für einen Moment wie unter einem Röntgenschirm aufleuchten.
Stuard hob die Augenbrauen. Reichlich arrogant für ein übergroßes boshaftes Glühwürmchen, das die Leute ins Moor lockte. Einen entsprechenden Kommentar verkniff er sich. Als artverwandte Kreaturen lief man sich doch des Öfteren bei Versammlungen über den Weg. Möglicherweise kannte man sich auch bereits – Irrlichter sahen für ihn alle gleich aus.
»Irrlichter und Hexen …«, seufzte Heinrich und verdrehte die Augen. »Die zerreißen sich echt über jeden das Maul.«
»Stimmt.« Stuard schnalzte mit der Zunge. »Aber wenigstens erfährst du von Hexen immer den aktuellsten Klatsch.«
»Apropos, hast du das Neueste gehört?«
»Nein.«
»Es heißt …« Heinrich blickte sich zu beiden Seiten um, dann beugte er sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern.
Stuard hörte aufmerksam zu. Zwischendurch antwortete er mit einem knappen »Nein« oder »Wirklich« samt zugehörigem Satzzeichen.
»Habe ich gehört«, schloss Heinrich und nickte bedeutungsvoll.
»Ist nicht dein Ernst!?«
»Stammt aus zuverlässiger Quelle.« Heinrich zuckte mit den Schultern. »Ich glaube es trotzdem erst, wenn ich es sehe.«
Damit lösten sich die beiden von ihrem Platz und machten sich auf den Weg zum Vortragssaal. Falls das Ganze nicht bloß ein dummes Gerücht war, dürfte ihnen eine interessante Nacht bevorstehen.
Noch nicht genug? Okay, springen wir hier ganz exklusiv zu Kapitel 3 (ein höllisch teuflisches Kapitel).
Wenn du kleine Vorausschauen magst, lies ruhig weiter. Wenn nicht, dann halte ein und wende dich ab!
Kapitel 3
Bestandsaufnahme
Luzifer schlurfte lustlos durch die Gänge. Seine Ansprache hatte nicht einmal im Ansatz die Wirkung gezeigt, die er sich erhofft hatte. Er fühlte sich weder befreit noch erleichtert oder gar neu motiviert, vielmehr wie ein Schluck Wasser in der Kurve.
Im Gegensatz zu dem vor Energie strotzenden Höllenhund. Das Tier wedelte mit den Schwänzen, rannte um die nächste Ecke und kam mit einem Unterschenkelknochen zwischen den Kiefern zurück. Luzifer nahm ihm das verweste Ding aus dem Maul und schleuderte es weit von sich. Aufgekratzt spurtete das Tier hinterher. Wenigstens einer, der Spaß hatte …
Er seufzte und glitt mit der rechten Hand die Wand entlang. Dabei zeichnete sein Zeigefingernagel eine Rinne in den Stein. Ob er es übertrieben hatte? Auf einer tief verschütteten Ebene verspürte er einen Anflug von schlechtem Gewissen – grob auf Höhe des nicht vorhandenen Bauchnabels. Immerhin waren sie seine Kinder. Gewissermaßen. Er hatte sie erschaffen. Mit eigenen Händen geformt und geleitet. Zerstörte man mit dem Werk nicht immer ein Stück weit auch sich selbst?
Ein weinerliches Wehklagen störte seine Gedankengänge. Es kam aus dem Archiv. Bestimmt wieder Paganini oder dieser Rapper, dessen Namen er dauernd vergaß. Two Fat Dogg? Capital Slim Daddy? Notorious Ice Master? Wie ihm die verdammten Musiker auf die Nerven gingen. Sie waren laut, sie waren selbstverliebt und sie hielten sich für wahnsinnig begabt, dabei furzten sie oft besser, als dass sie musizierten. Er beschleunigte seinen Schritt und donnerte mit der Faust mehrmals gegen die Tür.
»Ruhe da drinnen!«
»Entschuldigung.«
»Aaahhhuuu, bitte nicht mit der Laubsäge!«
Luzifer grunzte abfällig. Künstler waren echt das Letzte. Ständig diese Dramen. Ständig dieses Heischen um Aufmerksamkeit. Er hasste sie allesamt. Egal ob sie auf der Bühne herumhopsten, ihre Schreibmaschinen malträtierten oder den Pinsel schwangen. Von dem neumodischen Kram ganz zu schweigen.
Er dachte an all den Plunder, der in dem Archiv vor sich hin moderte. Also neben den gepeinigten Seelen derer, die sich für ein Stück zweifelhaften Ruhms an ihn verkauft oder verpfändet hatten. Unzählige Bücher, Filme, Notenblätter, Tonträger, Gemälde, Fotografien und anderweitig im weitesten Sinne kreative Erzeugnisse lagerten dort in einem wilden Durcheinander. Die schrecklichsten Ergüsse aus tausenden Jahren Menschheitsgeschichte.
Wieder erklang dieses elende Gewimmer.
»Hallo?!« Ungehalten riss er die Tür auf und streckte den gehörnten Kopf in den Raum. »Geht das eventuell leiser, ich habe Kopfschmerzen.«
»Selbstverständlich«, meinte der Folterknecht, der ihm am nächsten stand. »Mein Fehler, Herr«, ergänzte er und stopfte seinem Delinquenten grob dessen eigene abgetrennte Hand in den Mund, bevor er mit dem Foltern fortfuhr.
»Schon gut«, seufzte Luzifer.
Er lehnte sich in den Rahmen und ließ die Eindrücke einen Moment auf sich wirken. Hinten in der Ecke hockte Leonardo da Vinci vor einer Leinwand. Der Mann war in Tränen aufgelöst und dem Wahnsinn nahe. Luzifer legte den Kopf schief. Wenn er die Sache richtig interpretierte, quälte man ihn damit, ein gigantisches Malen nach Zahlen Bild mit seinem eigenen Blut zu erstellen. Kästchen für Kästchen und Tropfen für Tropfen. Das Motiv hieß Blick aus Rot von Paul Klee.
Er gähnte. Im Prinzip hatte er viel übrig für innovative Foltermethoden. Inzwischen konnte ihn nicht einmal mehr das aus seiner Lethargie holen. Langsam schloss er die Tür wieder und setzte den Spaziergang fort. Allein. Der treulose Hund musste eine bessere Beschäftigung gefunden haben. Den Knochen hatte er mitgenommen. Wahrscheinlich nagte er gerade irgendwo heimlich darauf herum. Sollte er, solange er danach nicht in eine leerstehende Zelle kackte …
Was ihn auf einen nicht unwichtigen Gedanken brachte. Wenn er tatsächlich alle Dämonen auslöschte, dann musste er sich überlegen, wie es hier unten weitergehen sollte. Es dürfte eine Weile dauern, bis die Fehlbestände aufgefüllt waren. Wer würde sich in der Zwischenzeit um die anfallenden Aufgaben kümmern? Waschen, putzen, bewachen, foltern, Höllenhundkacke wegmachen. Okay, das Foltern kriegten die Gefangenen auch untereinander hervorragend hin. Gelegentlich sperrten sie zum Spaß zwei oder mehr Insassen zusammen in eine Zelle, von denen mindestens einer sadistisch veranlagt war, und warteten ab, was passierte. Schöne Sache, dennoch ging unterm Strich nichts über professionelle Arbeit.
Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und wandte sich nach links. Der Gang, in den er einbog, führte in einer Abwärtsspirale an den verschiedenen Kerkern vorbei runter zum Fegefeuer. Dantes Inferno. Der Knilch hatte das seinerzeit ordentlich romantisiert. Von wegen Vorhölle, neun Kreise und das ganze Gedöns. Letzten Ende war die Hölle nichts weiter als ein verschissener Bürokomplex.
Eher beiläufig las er die Türschilder, die Auskunft über die Insassen des jeweiligen Traktes und ihre Verbrechen gaben. Die Auswahl war vielschichtig und in groben Zügen hierarchisch organisiert. Es fing bei harmlosen Gästen wie Umweltsündern, Steuerhinterziehern und Heiratsschwindlern an. Dann kamen Diebe, Betrüger, Erpresser und ähnlich geartete Kriminelle. Gefolgt von Schlägern, Drogendealern, Vergewaltigern und anderweitigen Gewalttätern. Zuletzt saßen dort die schweren Kaliber wie Mörder, Politiker, Tierquäler und Kinderschänder. Je tiefer man nach unten kam, desto niederträchtiger war das Verbrechen und desto länger der geplante Aufenthalt. Und umso mehr legten sich alle Beteiligten bei der Bestrafung ins Zeug. Die untersten Zellen waren denjenigen vorbehalten, deren Taten jede Kategorie sprengten.
»Hallo, Osama.«
Der Bärtige mit dem Turban nickte ihm höflich zu. Antworten konnte er im Moment nicht, da seine Zunge nebst zweier nicht jugendfreier Körperteile in der Hand einer dämonischen Jungfrau ruhte. Jeden Tag zerstückelte ihn die psychisch labile Dame in exakt zweiundsiebzig Einzelteile, woraufhin er am Abend wieder zusammengesetzt wurde, damit das Spiel am nächsten Morgen von vorne beginnen konnte. Darin lag seine Bestrafung. In Anlehnung an die versprochenen zweiundsiebzig Jungfrauen für den Märtyrertod. Seine eigene Idee. War ihm damals wahnsinnig clever erschienen.
Während der Bärtige unter gellendem Geschrei einen Zeh einbüßte, zwinkerte die Jungfrau Luzifer anzüglich zu. Er lächelte verkniffen zurück und kehrte den beiden den Rücken.
»Wiedersehen Osama«, murmelte er im Gehen.
Eine bleierne Schwere erfasste ihn. Wie ferngesteuert setzte er einen Huf vor den anderen. Den gewundenen Flur hinab ins Kellergeschoss, wo ihn wonnige Hitze und der Geruch von Schwefel empfingen. Hier war der Geist der ursprünglichen Hölle erhalten geblieben. Rauer Stein. Höhlenartige Gewölbe. Feuer und Finsternis. Er atmete durch die geblähten Nasenflügel ein und durch den Mund aus. My home is my hell, dachte er zynisch. Sein Blick verlor sich in den Flammen des Fegefeuers und ihm wurde melancholisch zumute.
Sie hatten in den vergangenen Äonen Großes geleistet, oder nicht? Allein die Vielfalt an Foltermethoden, die sie sich im Laufe der Zeit ausgedacht hatten. Eine perfider als die andere. Stets um Erfindungsreichtum und Weiterentwicklung bemüht, damit die Strafe der Sünde angemessen war.
Zu seinen persönlichen Favoriten gehörten vor allem solche Maßnahmen, die mit boshaftem Vergnügen die Tat in ihre Läuterung verkehrten. Wer beispielsweise einen erdrosselt hatte, wurde den lieben langen Tag aufgehängt, wo er erstickte, ohne zu sterben. Jemand ersäufte Hundewelpen, also wurde er regelmäßig von einem Rudel wilder Hunde zerfleischt. Giftmischer ließ man Säure trinken. Vergewaltiger schlossen intime Bekanntschaft mit einem Morgenstern und den Chef eines Mastbetriebes fütterten sie täglich solange, bis er wortwörtlich platzte. In der Hölle durfte man ruhig philosophisch quälen, fand er. Simpel und direkt hatte natürlich auch seine Reize. Die allseits beliebten und bewährten Klassiker wie Häuten, Auspeitschen, Rösten oder Zersägen waren deshalb nie aus der Mode gekommen. Daneben blieb er offen für Experimentelles und förderte Eigeninitiative bei seinen Mitarbeitern. Egal ob es sich um fleischfressende Bakterien, Feuerameisen oder den Einsatz von Werkzeug aus dem Baumarkt handelte.
Zwei Frettchen huschten ihm durch die Beine und verschwanden im Trakt der Tierquäler. Was die kleinen Racker wohl anstellen würden mit ihren spitzen Zähnchen? An einem besseren Tag hätte er es sich angesehen. Ein gewisser Unterhaltungswert war in dieser Branche nicht zu unterschätzen. Hier und heute blickte er ihnen mit aufkeimender Wehmut hinterher. Er verspürte keine Freude mehr an den kleinen Dingen und die großen Dinge waren ihm gleichgültig. War das nicht ohnehin Verschwendung – all das Foltern, Bestrafen, Vergelten, das Sühnen, Büßenlassen und die Kraft, die man hineinsteckte? Im Endeffekt wusste niemand die Arbeit zu würdigen. Stattdessen jammerten sie in einem fort, beschwerten sich und flehten um Gnade.
Gedankenverloren schlenderte er am Rand des Fegefeuers entlang und beobachtete die Seelen, die in der flüssigen Glut schwammen. Die letzte Läuterung, ehe sie ihn verließen, um in den Himmel aufzusteigen. Und was sah er? Von Angst und Schmerz verzerrte Gesichter. Keine Wertschätzung, keine Spur Dankbarkeit. Nein, sie besaßen obendrein die Frechheit, in ihrer Pein nach Gott zu rufen! Gott! Ein Schwall Magensäure stieg seine Speiseröhre hoch und endete in einem bitteren Rülpser. Wer hielt denn diesen verdammten Laden seit tausenden von Jahren am Laufen?! Er! Und brachte man ihm in irgendeiner Form Anerkennung entgegen? Nein!
Luzifer seufzte und steuerte den westlichen Flur an, der in einer Aufwärtsspirale wieder nach oben führte. Er seufzte viel in letzter Zeit, fiel ihm auf. Es wurde kühler und die Schreie der Verdammten verklangen allmählich in seinem Rücken. Irgendwo spielte Musik. Schmissige Volksmusik mit Bläsern, Klatschen und Gejodel. Wahrscheinlich quälten sie einen von den Hells Angels, bis ihm die Ohren bluteten. Im wörtlichen Sinne, von Metaphern hielt man in der Hölle nichts.
Er brauchte einen Schnaps.
Zum Glück war er im richtigen Gang dafür. Obwohl der östliche Flur ebenfalls einen Zugang zur Bar gehabt hätte. Genauso wie der südliche und der nördliche Flur. Man kam von überall aus in die Bar. Beweis für einen begabten Architekten oder erstes Anzeichen eines Alkoholproblems. Er trat durch den Vorhang und inhalierte das Spelunkenaroma. Sofort fühlte er sich relaxter. Entspannter. Geerdeter. Ver…
»Steht eine Orgie an, Herr?«
»Was?« Tranig blickte er nach links, wo ein untersetzter Dämon mit Silberblick Dellen in den Boden stand und ihn anstarrte.
»Ich kann alles vorbereiten.«
»Was willst du vorbereiten?«
»Essen, Getränke, Schlampen.«
»Wofür das denn?!«
»Na für die Orgie, Herr.«
»Es gibt keine Orgie«, knurrte er und schob den zu kurz geratenen Lakaien unsanft zur Seite.
»Wie schade.« Mit enttäuschter Miene verzog sich der Dämon in den hinteren Bereich der Bar, wo er anfing, nutzloserweise Gläser zu polieren.
Luzifer betrachtete ihn eine Weile wie ein komisches Insekt, dann ließ er den Blick durch den weitläufigen Raum schweifen. Dutzende runde Tische mit kristallenen Kronleuchtern darüber. Ein geschwungener Tresen, ledergepolsterte Barhocker, orientalischer Teppich und eine kleine Bühne. Alles im Stil der Goldenen Zwanziger. Was ungefähr dem Datum der letzten ausschweifenden Party entsprechen dürfte. Und sie hatten in diesem Saal legendäre Orgien veranstaltet! Er erinnerte sich. Bis auf den ein oder anderen Filmriss. Wenn es jemand verstand zu feiern, dann Sünder und Dämonen.
Inzwischen hingen Spinnweben in den Ecken und Staub sammelte sich auf den Möbeln. Die Originalfarbe des Teppichs war mit dem Reiz der damaligen Zeit verblasst. Meine Güte, das Duett von Jack und Lucrezia, als sie zusammen The Prisoner´s Song gesungen haben …
Er schielte zu dem gläserpolierenden Dämon hinüber und fragte sich, ob der Kerl damals auch schon hier herumgehangen hatte. Für ihn sahen alle Dämonen gleich aus. Davon abgesehen wunderte er sich allmählich über die gelassene Grundstimmung unter seinen Angestellten.
»Hey du, komm mal her.«
»Doch eine Orgie, Herr?«
»Nein!«, fuhr er ihn an. Mit seinem Nervenkostüm stand es wirklich nicht zum Besten.
»Schade.«
»Ja. Egal.« Er wedelte genervt mit der Hand durch die Luft. »Ich will dich etwas fragen. Hast du mitbekommen, was ich auf der Versammlung gesagt habe?«
»Gewiss, Herr.« Der Dämon leckte sich die Lippen.
»Und du hast verstanden, was ich gesagt habe?« Luzifer suchte nach den richtigen Worten. »Ich meine, du bist nicht dumm oder so?«
»Bin nicht die hellste Kerze, aber da oben brennt Licht.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.
»Ähm, okay. Dann tu mir den Gefallen und wiederhol es für mich.«
»Was Ihr auf der Versammlung gesagt habt?«
»Genau das.«
»Ihr wollt alle Kreaturen bis auf ein paar Auserwählte vernichten.«
»Und wie viele Auserwählte wird es geben?«
»Einen pro Spezies.«
»Und das beunruhigt dich nicht?«
»Nein, warum?« Lachend schüttelte er den Kopf und streckte die gespaltene Zunge heraus. »Uns Dämonen in der Hölle habt Ihr damit ja sicher nicht gemeint. Und um die anderen ist es nicht schade.«
Er nickte bedächtig.
Im Geiste schlug er sich die flache Hand vor die Stirn.
»War es das, Herr?«
»Ja, du kannst gehen.«
»Kein Orgie?«
»Keine Orgie.«
Seufzend zog er sich aus dem Raum zurück.
Falls es einer zusätzlichen Bestätigung bedurft hätte, um die letzten Zweifel zu zerstreuen, dann hatte er sie eben erhalten. Er brauchte dringend neues Personal – und renovieren sollte er auch gleich.